Was bitte ist Neue Autorität und was hat das mit Autorität zu tun?
Autorität ist ein schillernder, ein sperriger, ein äußerst emotional besetzter Begriff. Nur das Wort »Neue« vor Neue Autorität zu schreiben, verbessert die Wirkung zunächst nicht. Löst doch das Wort Autorität häufig Gefühle wie Angst, Ärger, Ohnmacht, Hilflosigkeit oder auch Frust aus.
Die einen meinen im nächsten Atemzug, Autorität braucht es nicht, während die anderen sagen: wir brauchen wieder mehr Autorität. Beiden Strömungen liegt (leider) das gleiche Autoritätsverständnis zu Grunde, auch wenn es in entgegen gesetzte Wirkungsrichtungen geht.
Beide Meinungen drücken das Verständnis von Autorität aus, wie es im 19. und 20. Jahrhundert zur (beginnenden) Blütezeit der Industrialisierung verstanden und gelebt wurde.
Autorität war gleichbedeutend mit Distanz und Unnahbarkeit, Befehl und Gehorsam, Willkür und Intransparenz, oben und unten, Herrschaftswissen und »keinen Schimmer«. Dass das zu »nicht so guten Gefühlen« geführt hat, ist naheliegend. Darüber konnte und wollte aber keiner offen sprechen: aus Angst vor Konsequenzen.
Dieses Verständnis entspricht aber nicht der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Autorität. Diese ursprüngliche Bedeutung von Autorität ist in Vergessenheit geraten. Bevor wir uns dem Thema Neue Autorität zuwenden, ein kurzer Ausflug zurück in die Geschichte der Autorität.
Kleine Geschichte der Autorität
Quelle: »Mit neuer Autorität in Führung«, Baumann-Habersack, SpringerGabler, 2015
Das Wort Autorität geht zurück auf das lateinische Wort auctoritas. Es bedeutet Würde, Ansehen oder auch Einfluss.
Diese auctoritas konnte einer einzelnen Person zukommen, aber auch einer ganzen Gruppe wie dem römischen Senat (auctoritas senatum). Auctoritas war immer dann wichtig, wenn politische Entscheidungen anstanden, für die es keine juristischen Grundlagen gab. In einem solchen Fall sprach die auctoritas einen Rat aus – wobei dieser Rat in der Regel die gleiche Wirkung erzielte wie ein Befehl.
Der Begriff auctoritas wurde noch im Mittelalter verwendet. Im Zuge der Sprachentwicklung verlor er sein „c“, seine Bedeutung verändert sich dadurch aber nicht. Das Wort auctoritas wiederum geht zurück auf auctor, was Schöpfer, Stifter, Urheber oder Verfasser bedeutet. Also jemanden meint, der etwas hervorbringt, der etwas erschafft. Es geht auch zurück auf das Wort augere, was vermehren oder zunehmen, wachsen lassen und auch fördern heißt. Selbst der römische Ehren- und Kaisername Augustus ist eine Ableitung von augere – in diesem Titel klingen Eigenschaften mit wie heilig und anbetungswürdig.
Autoritär, Autokratie und der Zusammenhang mit Autorität
Ganz anders steht es um die Wortherkunft von Autokratie – gemeint ist eine diktatorische Herrschaftsform. Dieser Begriff leitet sich von den griechischen Worten autos ab, was im Deutschen „selbst“ bedeutet. Und vom griechischen kratia, was Herrschaft heißt. Aus beiden entsteht das Wort Selbstherrschaft. Oströmische Kaiser nannten sich selbst Autokrator.
Ebenso grenzt sich der Begriff der Autorität deutlich von dem negativ konnotierten Begriff des Autoritären ab. Breite Aufmerksamkeit erlangte der böse Bruder der Autorität erstmals als Theodor W. Adorno im US-amerikanischen Exil (zwischen 1938 und 1949) seine berühmte, aber auch umstrittene Studie „The Authoritarian Personality“ verfasste. Eine griffige Erklärung, was heute unter einer „autoritären Persönlichkeit“ zu verstehen ist, stammt von dem Psychologen Adrian Furnham:
„[…] Autoritäre Personen [sind] zwanghaft damit beschäftigt, ihre inneren und äußeren Welten zu befehligen und zu beherrschen.“
Wenn man sich mit der Geschichte der Autorität beschäftigt, kommt man unweigerlich an einem zweiten Begriff, der potestas, vorbei. Für das römische potestas haben wir im Deutschen keine passende Übersetzung. Unter potestas verstanden die Römer eine rechtlich begründete, vor allem militärisch verstandene Verfügungsgewalt und Handlungsvollmacht, übertragen bedeutet es so viel wie Macht, Vollmacht, aber auch Möglichkeit. Im Privaten stand dem Hausherrn die patria potestas zu. Sie erlaubte ihm die Verfügungsgewalt über die Mitglieder seiner Familie und über seine Sklaven. In der Politik wurde unter potestas so etwas wie Amtsgewalt verstanden.
Wie im alten Rom verstehen wir unter Autorität auch heute noch etwas, das einer Person eher auf einem informellen Wege zukommt als durch eine Wahl, Preisverleihung, Erbschaft oder eine Berufung.
Wer über Autorität verfügt – aufgrund seiner persönlichen und zwischenmenschlichen Eigenschaften, seines hervorragenden Sachverstands oder seiner überzeugenden Performance – der verfügt zumeist auch über Macht. Umgekehrt gilt jedoch nicht zwingend: Macht verleiht Autorität. Warum nicht? Weil ein Mächtiger erst dann von anderen respektiert wird, wenn diese ihn als Autorität sehen. Autorität entsteht erst in einer oder, um es noch deutlicher zu sagen, erst durch Beziehung. Von sich aus und außerhalb eines sozialen Settings kann sie nicht vorhanden sein.
Das sah im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein noch anders aus, wie schon einleitend bemerkt. In dieser Zeit gab es noch die Anerkennung von Macht qua Funktion (wobei es sich hier, streng genommen, nicht um auctoritas handelte, sondern um potestas). Vorgesetzte, Lehrer, Amtsträger, usw. konnten sich darauf verlassen, dass Menschen diese Macht anerkannten, unabhängig davon, ob sie dem Amtsträger auch auctoritas zugestanden. Man musste sich in der Gestaltung von Beziehungen nicht übermäßig anstrengen, solange der eigene Name im Organigramm verzeichnet blieb oder man die Uniform trug, die einem potestas verlieh. Jedes Handeln aus dieser Funktion wurde von der Umgebung als machtvoll bewertet – und nicht hinterfragt. So war damals die Gesellschaft.
So steht es heute um (neue) Autorität
Heute kann eine machtvolle Funktion (potestas) hilfreich sein, damit ein Amt- bzw. Würdenträger Einfluss (auctoritas) zugesprochen wird, aber sie ist keine Garantie mehr. Unsere Gesellschaft und die geltenden Werte haben sich massiv gewandelt.
Jeden Tag muss an der Reputation gearbeitet werden, um die zugestandene Gestaltungskraft auf Dauer zu legitimieren. Chefs, Eltern, Lehrer, Amt- und Würdenträger können schneller denn je demontiert werden. Das verunsichert die Mächtigen und macht sie hilflos. Bereits „wund geschossenen“ Machthabern gelingt es aus dieser Hilflosigkeit oft nicht mehr, Autorität aufzubauen.
Als rettendes Ersatzkonstrukt sehen die Betroffenen häufig nur noch die Verstärkung der Hebel der Macht und der Dominanz – zur Not herbeigeführt über Gewalt. In Beziehungen geht es dann nur noch um Gewinnen oder Verlieren.
Auch Gewalt kann nicht automatisch Autorität erzeugen, denn Autorität gründet sich immer auf eine freiwillige Gefolgschaft. Zwang und Freiheit aber schließen sich aus. Autorität existiert also nicht von sich aus. Sie braucht immer eine Legitimation. In der Vergangenheit bezog sie diese vor allem aus der beherrschenden Stellung von Menschen, der Macht eines Amtes sowie Gesetzen und der freiwilligen Unterordnung unter diese.
Neue Autorität – das Ergebnis eines Wandelprozesses
Sobald Menschen eine Autorität für legitim halten, folgen sie dieser. Zweifeln sie an der Legitimität, geben sie die Gefolgschaft auf. Beides tun sie aus freiem Willen.
Die alten Bilder der Autorität lehnen wir also ab: Wir verachten autoritäre Väter (und Mütter) genauso wie autoritäres Auftreten in der Politik, in der Wirtschaft und natürlich auch in der Schule. Wir haben zwar neue Bilder der Autorität, aber sie bleiben unklar oder sie zeugen nur von offensichtlicher Überforderung.
Ohne Autorität geht es nicht. Mit dem alten Verständnis von Autorität auch nicht. Ein neues, in dieses Jahrhundert passendes Bild von Autorität war bislang nicht existent – bis Haim Omer das Konzept der Neuen Autorität entwickelte.
Haim Omer, der als Professor für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv tätig ist, hat dieses Konzept der Neuen Autorität entwickelt. Ein zentraler Aspekt seiner Arbeit mit Jugendlichen und Schulen ist der gewaltlose Widerstand – ein bereits seit Jahrzehnten bekanntes und bewährtes Prinzip. Einer der berühmtesten Vertreter des gewaltlosen Widerstands war Mahatma Gandhi, der auf diese Weise den Weg Indiens in die Unabhängigkeit ebnete. Haim Omer ist es zu verdanken, dass Aspekte wie „Beharrlichkeit“, aber auch Praktiken wie „Sitzstreiks“ auf das Feld der Erziehung übertragen wurden. Vorreiter des Konzepts der Neuen Autorität in Deutschland ist Prof. Arist von Schlippe.
Im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen sehen Omer/Schlippe (neue) Autorität nicht in Verbindung mit Gehorsam. Beziehung bedeutet für sie nicht Unterordnung. Die beiden Psychologen suchen in misslingenden Interaktionen weder nach dem Schuldigen noch plädieren sie für mehr Konsequenz. Außerdem sprechen sie sich gegen das Durchsetzen von Macht aus, wenn es um Neue Autorität geht.
Neue Autorität: zurück zum Miteinander auf Augenhöhe
Das Zentrum der Aufmerksamkeit einer Autoritätsperson ist nicht mehr auf den Wunsch gerichtet, sich gegenüber anderen im Kampf zu behaupten, sondern auf die gemeinsam gelebte Beziehung für ein Ziel. Neue Autorität dreht sich also nicht mehr um „schwierige Personen“, sondern um die Beziehung zwischen Menschen.
Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass alle Beteiligten in einem Teufelskreis stecken, aus dem sie ohne Hilfe von außen oftmals nicht mehr aussteigen können. Dieser Teufelskreis besteht aus Druck von oben, auf den Menschen, meist Kinder, Jugendliche oder Mitarbeiter, „ungehorsam“ reagieren. Die darauf folgenden Sanktionen „von oben“, beantworten die Menschen wiederum mit Rache, was mit noch härteren Sanktionen abgestraft wird. Und so weiter. So verfangen sich beide Seiten in Verhaltensmustern, die sich nur noch um Dominanz drehen. „Wer ist hier der Boss?“ Im Laufe dieser Eskalation zerbricht die Beziehung – und damit auch die Präsenz der Autoritätsperson. Letztendlich „wird die Autoritätsperson zum Sklaven ihrer eigenen Autorität“.
Neue Autorität: Beziehung als Ziel
Neue Autorität hat ein anderes Ziel: Ziel der Neuen Autorität ist es nun nicht, die Kontrolle über den Menschen zurückzuerobern, sondern die Beziehung zu beleben. Das heißt, Neue Autorität legitimiert sich nicht durch das Verhalten des Gegenübers.
Das gelingt allerdings nur, wenn die Autoritätsperson eben nicht mehr hauptsächlich nach Macht strebt, sondern nach Stärke. Eine Stärke, die sich aus der Wechselwirkung der Elemente des Konzepts der Neuen Autorität speist. Gemeint ist damit vor allem, dass Autoritätspersonen, wie Führungskräfte, Lehrer, Eltern usw. den Dialog suchen, statt dem Druck zu erliegen, Konsequenzen sofort zu vollstrecken. Macht führt zu Eskalation, Stärke baut Beziehungen auf. Gelingt es, eine echte Nähe zu Menschen zu gestalten, stellt das für die Autoritätsperson einen enormen Gewinn an innerlicher Freiheit dar. Neue Autorität befreit somit von „Vergeltungspflicht“ und „Kontrollausübung“.
Eine Autoritätsperson, die Neue Autorität als Haltung lebt, wird nicht schreien, argumentieren, debattieren oder moralisieren, mit dem Ziel, den anderen zu dominieren. Sie wird sich nicht den Mund fusselig reden oder drohen. Vielmehr geht sie innerlich auf Abstand, verzögert ihre Reaktion, reflektiert, denkt über die nächsten Schritte nach, kommt aber immer auf das Fehlverhalten zurück.
Durch den selbstkontrollierten Umgang mit Provokationen wie auch durch die Weigerung, unbotmäßige Befehle, z. B. von Jugendlichen oder Mitarbeitern auszuführen, gewinnt die Autoritätsperson echte Neue Autorität und steigert ihre Präsenz gegenüber ihren Mitarbeitern oder Kindern. Dabei überträgt sie die Verantwortung für sich selbst nie auf andere. Die Botschaft ihres Verhaltens lautet niemals: „Du sollst dich ändern, sonst bestrafe ich dich und du wirst dich schlecht fühlen!“. Stattdessen sendet sie das Signal: „Ich ändere mein Verhalten dir gegenüber, weil ich mich sonst schlecht fühle.“
Neue Autorität bewirkt einen Wandel im Inneren
In Wirklichkeit findet die eigentliche Veränderung im Inneren der Autoritätsperson statt. Sie ist es die lernt, anders zu handeln, zu denken und zu fühlen. Während für diesen Menschen in seiner Autoritätsposition allmählich der gewaltlose Widerstand zur Gewohnheit wird, verringert sich das destruktive Potenzial in den Handlungen des Gegenübers und in der Folge auch wieder bei der Autoritätsperson. Neue Autorität als Haltung ist der Einstieg in eine Positivspirale.
Die Neue Autorität ist im Kern eine Haltung, die sich dann in anderem Verhalten zeigt, im Vergleich zu autoritärer Haltung. Hier eine kurze Übersicht:
autoritäre Haltung zu Autorität |
Neue Autorität als Haltung zu Autorität |
Distanz, Unnahbarkeit | Präsenz, Nahbarkeit |
Kontrolle | Selbstkontrolle |
Hierarchie | Vernetzung |
Eskalation | Deeskalation |
Dringlichkeit | Beharrlichkeit |
Abschottung, Intransparenz | Transparenz |
Vergeltung/Bestrafung | Wiedergutmachung und Versöhnungsgesten |
Kann Neue Autorität überhaupt funktionieren?
Irritiert Sie dieser Ansatz? Glauben Sie: „Das kann doch gar nicht funktionieren“? Oder sogar, ich überspitze bewusst: „Das ist doch etwas für Hippies oder Weicheier“? Diese Reaktion ist weit verbreitet und auch nachvollziehbar. Schließlich herrschen im wahrsten Sinne des Wortes in unserer Gesellschaft seit Jahrhunderten Vorstellungen zum Thema Autorität, die mit seiner ursprünglichen Bedeutung nichts gemein haben.
Tatsächlich ist das Konzept der Neuen Autorität für Autoritätspersonen mit wenig Mut und Energie zunächst nicht geeignet. Diese Art des Verhaltens erfordert einen großen, inneren Kraftaufwand über mehrere Monate, um sie effektiv und erfolgreich praktizieren zu können. Danach aber, das belegt die Praxis zunehmend, danach existieren tragfähige Autoritätsbeziehungen. Autorität verliert dadurch die negative Konnotation und wird wieder zu einem wichtigen Gestaltungselement von Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, Lehrern und ihren Schülern, Führungskräften und ihren Mitarbeitern.
Neue Autorität: kann man das lernen?
So wie man sich eine autoritäre Haltung zu Autorität anlernen kann, so kann man auch Neue Autorität als Haltung lernen.
Speziell für Führungskräfte gibt es seit Sommer 2015 eine Aus- und Weiterbildungseinrichtung, die sich nur mit dem Autoritätswandel in der Führung beschäftigt:
Autoritum® – Akademie für Persönlichkeit und Führung. Hier können Führungskräfte aller Ebenen und Branchen Neue Autorität als zukunftsweisende und wirksame Führungshaltung lernen.
Neue Autorität in der Führung ist keine Geheimwissenschaft, sondern basiert auf wissenschaftlicher Forschung und langjähriger Führungspraxis.